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DVD & BLU-RAY | 30.07.2025

TABU
Die Verführung meiner Schwester

Die 27-jährige Ballettlehrerin Charlotte führt ein beschauliches Leben. Das ändert sich schlagartig, als sie zum ersten Mal ihrem bis dato verschollenen Halbbruder Henrik begegnet. Die beiden fühlen sich bald zueinander hingezogen. Doch aus der anfänglichen geschwisterlichen Zuneigung entwickelt sich eine hemmungslose, sexuelle Affäre.

von Franziska Keil


® MaipoFilm / Foto: Erik Aavatsmark

Der norwegische Spielfilm „Tabu – Die Verführung meiner Schwester“ (Originaltitel: „De nærmeste“, international bekannt als „Homesick“), der kürzlich für das Heimkino erschienen ist, wagt sich an ein Thema von immenser emotionaler und moralischer Komplexität: die Anziehung zwischen Halbgeschwistern. Unter der Regie von Anne Sewitsky entfaltet sich ein intimes Drama, das die Suche nach familiärer Zugehörigkeit mit der Verlockung des Verbotenen verknüpft. Der Film besticht durch seine sensible Inszenierung und die herausragenden Darstellerleistungen, doch seine Auseinandersetzung mit dem heiklen Sujet ist eine Gratwanderung, die sowohl fesselt als auch zuweilen provoziert. Im Zentrum der Erzählung steht Charlotte (Ine Marie Wilmann), eine junge Frau, die trotz eines scheinbar geordneten Lebens – einer Beziehung und einer Tätigkeit als Tanzlehrerin – eine tiefe emotionale Leere verspürt. Diese Leere rührt von einer Kindheit her, in der familiäre Wärme und Zuneigung Mangelware waren. Als sie erfährt, dass ihr bisher unbekannter Halbbruder Henrik (Simon J. Berger) nach Oslo gezogen ist, ergreift sie die Gelegenheit, eine Verbindung zu ihm aufzubauen, in der Hoffnung, die fehlende familiäre Liebe zu finden. Doch die anfängliche Neugier und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit entwickeln sich schnell zu einer intensiven, von sexueller Spannung geladenen Beziehung, die das Fundament des Films bildet. Die Stärke von „Tabu – Die Verführung meiner Schwester“ liegt in der nuancierten Darstellung der psychologischen Dynamik zwischen Charlotte und Henrik. Der Film vermeidet es, die Beziehung sofort zu verurteilen oder zu skandalisieren. Stattdessen beleuchtet er die Grauzonen der menschlichen Psyche, die Sehnsucht nach Nähe und die oft unbewussten Triebkräfte, die Menschen zu Grenzüberschreitungen bewegen können.


® MaipoFilm / Foto: Erik Aavatsmark

Insbesondere die schauspielerischen Leistungen von Ine Marie Wilmann und Simon J. Berger sind herausragend. Wilmann verkörpert Charlottes innere Zerrissenheit, ihre Verletzlichkeit und ihre verzweifelte Suche nach Liebe mit beeindruckender Authentizität. Berger gelingt es, Henrik als eine Figur zu zeichnen, die gleichermaßen anziehend und undurchsichtig ist, und die Komplexität seiner Motivationen spürbar macht. Ihre Chemie ist intensiv und beklemmend zugleich. Die Regie von Anne Sewitsky ist dabei bemerkenswert feinfühlig. Sie setzt auf eine intime Kameraführung, die oft nah an den Gesichtern der Protagonisten verweilt, um die subtilsten emotionalen Regungen einzufangen. Die Atmosphäre des Films ist oft melancholisch und von einer stillen Spannung durchdrungen, die die Schwere des Themas unterstreicht. Die größte Herausforderung und zugleich der kontroverseste Aspekt von „Tabu – Die Verführung meiner Schwester“ ist die explizite Thematisierung des Inzests. Der Film zwingt das Publikum, sich mit einer Beziehung auseinanderzusetzen, die gesellschaftlich als absolutes Tabu gilt. Hier liegt die Gratwanderung des Films: Er versucht, die menschlichen Beweggründe und die emotionale Not der Charaktere nachvollziehbar zu machen, ohne die moralischen Implikationen ihrer Handlungen zu verharmlosen oder zu glorifizieren. Manche Zuschauer könnten die Darstellung als zu empathisch empfinden, da der Film die Hintergründe der Charaktere beleuchtet, die zu dieser Beziehung führen. Die Frage, ob der Film ausreichend Distanz zum Tabu wahrt oder ob er Gefahr läuft, es zu normalisieren, ist eine berechtigte Debatte. Die Reaktionen des sozialen Umfelds der Charaktere sind zwar vorhanden, aber die primäre Fokussierung auf die innere Welt von Charlotte und Henrik kann dazu führen, dass die weitreichenden Konsequenzen ihrer Handlungen für Dritte (wie Charlottes Partner) zuweilen in den Hintergrund treten. Die narrative Auflösung der Konflikte mag für einige Zuschauer nicht ausreichend sein, um die Schwere des Themas vollständig zu erfassen.


TABU - DIE VERFÜHRUNG MEINER SCHWESTER

ET: 08.05.25: DVD, Blu-ray | FSK 16
R: Anne Sewitsky | D: Ine Marie Wilmann, Simon J. Berger
Norwegen 2015 | Busch Media Group


 


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