Die
27-jährige Ballettlehrerin Charlotte führt ein beschauliches
Leben. Das ändert sich schlagartig, als sie zum ersten Mal ihrem
bis dato verschollenen Halbbruder Henrik begegnet. Die beiden fühlen
sich bald zueinander hingezogen. Doch aus der anfänglichen geschwisterlichen
Zuneigung entwickelt sich eine hemmungslose, sexuelle Affäre.
von
Franziska Keil
® MaipoFilm / Foto: Erik Aavatsmark
Der
norwegische Spielfilm „Tabu – Die Verführung meiner
Schwester“ (Originaltitel: „De nærmeste“,
international bekannt als „Homesick“), der kürzlich
für das Heimkino erschienen ist, wagt sich an ein Thema von immenser
emotionaler und moralischer Komplexität: die Anziehung zwischen
Halbgeschwistern. Unter der Regie von Anne Sewitsky entfaltet sich
ein intimes Drama, das die Suche nach familiärer Zugehörigkeit
mit der Verlockung des Verbotenen verknüpft. Der Film besticht
durch seine sensible Inszenierung und die herausragenden Darstellerleistungen,
doch seine Auseinandersetzung mit dem heiklen Sujet ist eine Gratwanderung,
die sowohl fesselt als auch zuweilen provoziert. Im Zentrum der Erzählung
steht Charlotte (Ine Marie Wilmann), eine junge Frau, die trotz eines
scheinbar geordneten Lebens – einer Beziehung und einer Tätigkeit
als Tanzlehrerin – eine tiefe emotionale Leere verspürt.
Diese Leere rührt von einer Kindheit her, in der familiäre
Wärme und Zuneigung Mangelware waren. Als sie erfährt, dass
ihr bisher unbekannter Halbbruder Henrik (Simon J. Berger) nach Oslo
gezogen ist, ergreift sie die Gelegenheit, eine Verbindung zu ihm
aufzubauen, in der Hoffnung, die fehlende familiäre Liebe zu
finden. Doch die anfängliche Neugier und das Bedürfnis nach
Zugehörigkeit entwickeln sich schnell zu einer intensiven, von
sexueller Spannung geladenen Beziehung, die das Fundament des Films
bildet. Die Stärke von „Tabu – Die Verführung
meiner Schwester“ liegt in der nuancierten Darstellung der psychologischen
Dynamik zwischen Charlotte und Henrik. Der Film vermeidet es, die
Beziehung sofort zu verurteilen oder zu skandalisieren. Stattdessen
beleuchtet er die Grauzonen der menschlichen Psyche, die Sehnsucht
nach Nähe und die oft unbewussten Triebkräfte, die Menschen
zu Grenzüberschreitungen bewegen können.
® MaipoFilm / Foto: Erik Aavatsmark
Insbesondere
die schauspielerischen Leistungen von Ine Marie Wilmann und Simon
J. Berger sind herausragend. Wilmann verkörpert Charlottes innere
Zerrissenheit, ihre Verletzlichkeit und ihre verzweifelte Suche nach
Liebe mit beeindruckender Authentizität. Berger gelingt es, Henrik
als eine Figur zu zeichnen, die gleichermaßen anziehend und
undurchsichtig ist, und die Komplexität seiner Motivationen spürbar
macht. Ihre Chemie ist intensiv und beklemmend zugleich. Die Regie
von Anne Sewitsky ist dabei bemerkenswert feinfühlig. Sie setzt
auf eine intime Kameraführung, die oft nah an den Gesichtern
der Protagonisten verweilt, um die subtilsten emotionalen Regungen
einzufangen. Die Atmosphäre des Films ist oft melancholisch und
von einer stillen Spannung durchdrungen, die die Schwere des Themas
unterstreicht. Die größte Herausforderung und zugleich
der kontroverseste Aspekt von „Tabu – Die Verführung
meiner Schwester“ ist die explizite Thematisierung des Inzests.
Der Film zwingt das Publikum, sich mit einer Beziehung auseinanderzusetzen,
die gesellschaftlich als absolutes Tabu gilt. Hier liegt die Gratwanderung
des Films: Er versucht, die menschlichen Beweggründe und die
emotionale Not der Charaktere nachvollziehbar zu machen, ohne die
moralischen Implikationen ihrer Handlungen zu verharmlosen oder zu
glorifizieren. Manche Zuschauer könnten die Darstellung als zu
empathisch empfinden, da der Film die Hintergründe der Charaktere
beleuchtet, die zu dieser Beziehung führen. Die Frage, ob der
Film ausreichend Distanz zum Tabu wahrt oder ob er Gefahr läuft,
es zu normalisieren, ist eine berechtigte Debatte. Die Reaktionen
des sozialen Umfelds der Charaktere sind zwar vorhanden, aber die
primäre Fokussierung auf die innere Welt von Charlotte und Henrik
kann dazu führen, dass die weitreichenden Konsequenzen ihrer
Handlungen für Dritte (wie Charlottes Partner) zuweilen in den
Hintergrund treten. Die narrative Auflösung der Konflikte mag
für einige Zuschauer nicht ausreichend sein, um die Schwere des
Themas vollständig zu erfassen.
TABU - DIE VERFÜHRUNG MEINER SCHWESTER
ET:
08.05.25: DVD, Blu-ray | FSK 16
R: Anne Sewitsky | D: Ine Marie Wilmann, Simon J. Berger
Norwegen 2015 | Busch Media Group