Tildas
Tage sind streng durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse
sitzen, schwimmen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern
– und an schlechten Tagen auch um ihre Mutter. Zu dritt wohnen
sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt,
die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam
oder Berlin, nur Tilda ist geblieben.
Mit
dem Kinostart von „22 Bahnen“ am 04. September betritt
ein Film die Leinwand, der nicht nur Coming-of-Age-Drama, sondern
zugleich Gesellschaftsspiegel ist. Regisseurin Mia Maariel Meyer gelingt
es, Caroline Wahls vielbeachteten Roman in eine Bildsprache zu übertragen,
die weit über die individuelle Geschichte ihrer Protagonistin
hinausweist. Denn im Zentrum steht ein Thema, das in politischen wie
kulturellen Debatten unserer Zeit zunehmend in den Fokus rückt:
die unsichtbare, unbezahlte Care-Arbeit und ihre geschlechtsspezifische
Verteilung. Tilda, gespielt von Luna Wedler, ist jung, klug, ambitioniert
– und dennoch gefangen in der Rolle einer Ersatzmutter. Sie
übernimmt jene Aufgaben, die ihre alkoholkranke Mutter nicht
erfüllt: Fürsorge, Verantwortung, Organisation. Damit verkörpert
sie eine Lebensrealität, die in vielen Familien existiert, aber
gesellschaftlich kaum sichtbar wird. Dass ausgerechnet eine junge
Frau diese Bürde trägt, ist kein Zufall, sondern verweist
auf die tief verankerten Erwartungen, die an weibliche Rollenbilder
geknüpft sind. Meyer macht aus Tildas Schicksal kein tristes
Sozialdrama, sondern einen subtilen Kommentar: Die Kamera zeigt, ohne
zu erklären. Ein Jutebeutel voller leerer Flaschen wird zum Sinnbild
jener Last, die Kinder aus dysfunktionalen Familien oft viel zu früh
tragen müssen. In dieser Zurückhaltung liegt ein politisches
Moment – der Film entlarvt die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit,
mit der Care-Arbeit unsichtbar bleibt, indem er sie still, aber unübersehbar
ins Bild setzt. Die Beziehung zwischen Tilda und Ida bildet den emotionalen
Kern des Films und wird zugleich zur Metapher für eine andere
Form des Miteinanders. Wo die Mutter abwesend ist, entsteht eine solidarische
Verbindung zwischen Geschwistern, die von Zuneigung und gemeinsamer
Resilienz getragen wird. In Zeiten, in denen gesellschaftliche Debatten
um Care-Arbeit meist abstrakt über Zahlen, Zuständigkeiten
und Systeme geführt werden, zeigt „22 Bahnen“ die
intime Dimension: die kleinen Gesten, die Rituale, die geteilten Lieder,
die trotz widriger Umstände einen Raum der Zugehörigkeit
eröffnen.
Diese
Schwesternliebe ist nicht nur ein filmisches Motiv, sondern auch ein
kulturkritischer Gegenentwurf: Sie zeigt, dass Fürsorge nicht
zwingend ein Ort der Erschöpfung sein muss, sondern – wenn
sie frei gewählt wird – auch zu einem Ort der Kraft und
Hoffnung werden kann. Tildas zentrale Entscheidung – ob sie
die Kleinstadt und damit ihre Schwester zurücklassen darf, um
in Berlin ein neues Leben zu beginnen – berührt eine Frage,
die viele junge Erwachsene in Deutschland betrifft: Wie viel Verantwortung
schuldet man seiner Herkunftsfamilie, und wie viel Selbstbestimmung
ist legitim? Hier öffnet der Film ein Spannungsfeld, das weit
über das individuelle Schicksal hinausweist. Meyer inszeniert
diesen Konflikt ohne einfache Lösungen. Stattdessen verhandelt
sie die Frage, wie sich individuelle Freiheit und familiäre Verpflichtungen
zueinander verhalten. In Tildas Zerrissenheit spiegelt sich ein gesellschaftlicher
Diskurs über Generationengerechtigkeit: Wer trägt die Last
der Versäumnisse? Und welche Kosten haben jene, die sich weigern,
ihre Zukunft der Vergangenheit zu opfern? Die emotionale Wucht von
„22 Bahnen“ verdankt sich in hohem Maße Luna Wedler,
die zu den eindrucksvollsten Stimmen ihrer Generation zählt.
Schon mit ihrem Durchbruch in „Blue My Mind“ (2017) bewies
sie eine bemerkenswerte Fähigkeit, innere Zerrissenheit und körperliche
Expressivität in Einklang zu bringen. Seitdem hat sie sich kontinuierlich
in der deutschsprachigen Kinolandschaft etabliert, wobei sie stets
Rollen wählt, die ein breites emotionales Spektrum erfordern.
In „22 Bahnen“ erreicht Wedler eine neue künstlerische
Reife. Ihr Spiel ist durchdrungen von einer körperlichen Präsenz,
die Tildas Dasein zwischen Kraft und Erschöpfung sichtbar macht:
in der stählernen Konsequenz, mit der sie für ihre Schwester
kämpft, ebenso wie in jenen Momenten, in denen ihre Verletzlichkeit
ungeschützt hervortritt. Wedler beherrscht den seltenen Balanceakt
zwischen stiller Zurückhaltung und eruptiver Expressivität.
Besonders in Szenen, in denen Tilda der Mutter ihre ganze aufgestaute
Wut entgegenschleudert, entfaltet Wedler eine Authentizität,
die weit über schauspielerische Technik hinausgeht. Bemerkenswert
ist zudem ihre Fähigkeit, die Figur nicht in Opferrollen zu verengen.
Tilda bleibt bei aller Härte auch ein junger Mensch mit Sehnsucht,
mit Humor und zarten Träumen. Damit schenkt Wedler dem Film eine
vielschichtige Protagonistin, deren emotionale Bandbreite dem gesamten
Werk seine Tiefe verleiht.
22 BAHNEN
Start:
04.09.25 | FSK 12
R: Mia Maariel Meyer | D: Luna Wedler, Zoë Baier, Jannis Niewöhner
Deutschland 2025 | Constantin Film Verleih