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KINO | 03.09.2025

22 BAHNEN

Tildas Tage sind streng durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, schwimmen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um ihre Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben.

von Richard-Heinrich Tarenz


© Constantin Film Distribution / Gordon Timpen

Mit dem Kinostart von „22 Bahnen“ am 04. September betritt ein Film die Leinwand, der nicht nur Coming-of-Age-Drama, sondern zugleich Gesellschaftsspiegel ist. Regisseurin Mia Maariel Meyer gelingt es, Caroline Wahls vielbeachteten Roman in eine Bildsprache zu übertragen, die weit über die individuelle Geschichte ihrer Protagonistin hinausweist. Denn im Zentrum steht ein Thema, das in politischen wie kulturellen Debatten unserer Zeit zunehmend in den Fokus rückt: die unsichtbare, unbezahlte Care-Arbeit und ihre geschlechtsspezifische Verteilung. Tilda, gespielt von Luna Wedler, ist jung, klug, ambitioniert – und dennoch gefangen in der Rolle einer Ersatzmutter. Sie übernimmt jene Aufgaben, die ihre alkoholkranke Mutter nicht erfüllt: Fürsorge, Verantwortung, Organisation. Damit verkörpert sie eine Lebensrealität, die in vielen Familien existiert, aber gesellschaftlich kaum sichtbar wird. Dass ausgerechnet eine junge Frau diese Bürde trägt, ist kein Zufall, sondern verweist auf die tief verankerten Erwartungen, die an weibliche Rollenbilder geknüpft sind. Meyer macht aus Tildas Schicksal kein tristes Sozialdrama, sondern einen subtilen Kommentar: Die Kamera zeigt, ohne zu erklären. Ein Jutebeutel voller leerer Flaschen wird zum Sinnbild jener Last, die Kinder aus dysfunktionalen Familien oft viel zu früh tragen müssen. In dieser Zurückhaltung liegt ein politisches Moment – der Film entlarvt die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, mit der Care-Arbeit unsichtbar bleibt, indem er sie still, aber unübersehbar ins Bild setzt. Die Beziehung zwischen Tilda und Ida bildet den emotionalen Kern des Films und wird zugleich zur Metapher für eine andere Form des Miteinanders. Wo die Mutter abwesend ist, entsteht eine solidarische Verbindung zwischen Geschwistern, die von Zuneigung und gemeinsamer Resilienz getragen wird. In Zeiten, in denen gesellschaftliche Debatten um Care-Arbeit meist abstrakt über Zahlen, Zuständigkeiten und Systeme geführt werden, zeigt „22 Bahnen“ die intime Dimension: die kleinen Gesten, die Rituale, die geteilten Lieder, die trotz widriger Umstände einen Raum der Zugehörigkeit eröffnen.


© Constantin Film Distribution / Gordon Timpen

Diese Schwesternliebe ist nicht nur ein filmisches Motiv, sondern auch ein kulturkritischer Gegenentwurf: Sie zeigt, dass Fürsorge nicht zwingend ein Ort der Erschöpfung sein muss, sondern – wenn sie frei gewählt wird – auch zu einem Ort der Kraft und Hoffnung werden kann. Tildas zentrale Entscheidung – ob sie die Kleinstadt und damit ihre Schwester zurücklassen darf, um in Berlin ein neues Leben zu beginnen – berührt eine Frage, die viele junge Erwachsene in Deutschland betrifft: Wie viel Verantwortung schuldet man seiner Herkunftsfamilie, und wie viel Selbstbestimmung ist legitim? Hier öffnet der Film ein Spannungsfeld, das weit über das individuelle Schicksal hinausweist. Meyer inszeniert diesen Konflikt ohne einfache Lösungen. Stattdessen verhandelt sie die Frage, wie sich individuelle Freiheit und familiäre Verpflichtungen zueinander verhalten. In Tildas Zerrissenheit spiegelt sich ein gesellschaftlicher Diskurs über Generationengerechtigkeit: Wer trägt die Last der Versäumnisse? Und welche Kosten haben jene, die sich weigern, ihre Zukunft der Vergangenheit zu opfern? Die emotionale Wucht von „22 Bahnen“ verdankt sich in hohem Maße Luna Wedler, die zu den eindrucksvollsten Stimmen ihrer Generation zählt. Schon mit ihrem Durchbruch in „Blue My Mind“ (2017) bewies sie eine bemerkenswerte Fähigkeit, innere Zerrissenheit und körperliche Expressivität in Einklang zu bringen. Seitdem hat sie sich kontinuierlich in der deutschsprachigen Kinolandschaft etabliert, wobei sie stets Rollen wählt, die ein breites emotionales Spektrum erfordern. In „22 Bahnen“ erreicht Wedler eine neue künstlerische Reife. Ihr Spiel ist durchdrungen von einer körperlichen Präsenz, die Tildas Dasein zwischen Kraft und Erschöpfung sichtbar macht: in der stählernen Konsequenz, mit der sie für ihre Schwester kämpft, ebenso wie in jenen Momenten, in denen ihre Verletzlichkeit ungeschützt hervortritt. Wedler beherrscht den seltenen Balanceakt zwischen stiller Zurückhaltung und eruptiver Expressivität. Besonders in Szenen, in denen Tilda der Mutter ihre ganze aufgestaute Wut entgegenschleudert, entfaltet Wedler eine Authentizität, die weit über schauspielerische Technik hinausgeht. Bemerkenswert ist zudem ihre Fähigkeit, die Figur nicht in Opferrollen zu verengen. Tilda bleibt bei aller Härte auch ein junger Mensch mit Sehnsucht, mit Humor und zarten Träumen. Damit schenkt Wedler dem Film eine vielschichtige Protagonistin, deren emotionale Bandbreite dem gesamten Werk seine Tiefe verleiht.


22 BAHNEN

Start: 04.09.25 | FSK 12
R: Mia Maariel Meyer | D: Luna Wedler, Zoë Baier, Jannis Niewöhner
Deutschland 2025 | Constantin Film Verleih


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