Die „Sirat-Brücke“
ist im Islam eine Brücke, die im Jenseits über die Hölle
führt und von den Toten am Jüngsten Tag überquert werden
muss, um ins Paradies zu gelangen. Sie wird als sehr dünn und
scharf, vergleichbar mit einem Haar oder einem Schwert, beschrieben.
„Sirât“, ein Film von Regisseur Oliver Laxe, trägt
seinen Titel daher nicht zufällig. Protagonisten und Publikum
müssen im Verlauf dieses Werks gleichermaßen balancieren:
zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Schönheit und Zerstörung,
Ekstase und Untergang.
Luis
(Sergi López) und sein Sohn Esteban (Bruno Núñez)
kommen auf einem abgelegenen Rave inmitten der Berge Südmarokkos
an. Sie sind auf der Suche nach Mar, ihrer Tochter und Schwester,
die vor Monaten auf einer dieser niemals endenden, schlaflosen Partys
verschwunden ist. Umgeben von elektronischer Musik und einem rohen,
ungewohnten Gefühl von Freiheit, zeigen sie immer wieder ihr
Foto herum. Die Hoffnung schwindet, doch sie geben die Suche nicht
auf und folgen einer Gruppe von Ravern zu einer weiteren Party in
der Wüste. Je tiefer sie in die glühende Wildnis vordringen,
desto mehr zwingt sie die Reise, sich ihren eigenen Grenzen zu stellen.
Luis, gezeichnet von Müdigkeit und Verlust,
bewegt sich wie ein Fremdkörper durch eine Welt, die er nicht
versteht: die transnationalen Nomaden, die von einem Festival zum
nächsten ziehen – Menschen, die in der Musik den einzigen
Ausweg aus einer von Krisen zerfressenen Realität suchen. Dazu
im Kontrast stehen die Bewohner der entlegenen Siedlungen, deren Alltag
von Ressourcenknappheit und improvisierter Gemeinschaft geprägt
ist. Letztendlich müssen sie alle gleichermaßen fliehen:
vor Konflikten und drohenden Krieg – die einen unfreiwillig
aus ihrem Zuhause und die anderen aus einer Gegend, in die sie gepilgert
sind, um Ausflucht zu finden.
Visuell überzeugt der Film mit beinahe
hypnotisierenden Bildern. Die Wüste ist nicht nur Kulisse, sondern
ein lebendiger, fordernder Organismus. In dieser Weite wechseln sich
lange, kontemplative Einstellungen mit rauschhaften Momenten ab. Besonders
in den Rave-Sequenzen verschwimmen die Grenzen zwischen Kino und reiner
Sinneserfahrung. Nahaufnahmen von verschwitzten Gesichtern und glitzernden
Staubpartikeln kontrastieren mit totalen Einstellungen, die das menschliche
Treiben wie ein flüchtiges Flackern in einer uralten Landschaft
erscheinen lassen.
Der
Klang spielt dabei eine ebenso zentrale Rolle wie das Bild. Die Techno-Beats
reichen von Goa bis Trance und besonders in Dolby Atoms entfaltet
sich dieser Sound nicht nur im Raum, sondern auch im Körper der
Zuschauer. Die Bässe sind nicht Beiwerk, sondern Motor der Erzählung
– sie treiben Luis und Esteban weiter, selbst dann, wenn sie
am liebsten aufgeben würden. Laxe vertraut so stark auf den Klang,
dass die Szenen oft wie visuelle Übersetzungen der Musik wirken:
Bilder, die den Rhythmus atmen.
„Sirât“ ist kein Film, den
man „einfach so“ sieht und danach zu alltäglichen
Gesprächen übergeht. Er verlangt, dass man sich von ihm
vereinnahmen lässt – von seinem Rhythmus, seiner Stille,
seiner physischen Präsenz. Laxe formt hier kein konsumierbares
Erzählkino, sondern eine radikale Sinneserfahrung. Die Figuren
tasten sich Schritt für Schritt vor, über eine unsichtbare
Brücke zwischen Himmel und Abgrund und zwingen das Publikum,
denselben unsicheren Boden zu betreten.
SIRÂT
Start:
14.08.25 | FSK 16
R: Oliver Laxe | D: Sergi López, Bruno Núñez
Arjona, Richard Bellamy
Spanien, Frankreich 2025 | Pandora Filmverleih