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KINO | 06.08.2025

SIRÂT

Die „Sirat-Brücke“ ist im Islam eine Brücke, die im Jenseits über die Hölle führt und von den Toten am Jüngsten Tag überquert werden muss, um ins Paradies zu gelangen. Sie wird als sehr dünn und scharf, vergleichbar mit einem Haar oder einem Schwert, beschrieben. „Sirât“, ein Film von Regisseur Oliver Laxe, trägt seinen Titel daher nicht zufällig. Protagonisten und Publikum müssen im Verlauf dieses Werks gleichermaßen balancieren: zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Schönheit und Zerstörung, Ekstase und Untergang.

von Laura Sternberg


© Pandora Film / QuimVives

Luis (Sergi López) und sein Sohn Esteban (Bruno Núñez) kommen auf einem abgelegenen Rave inmitten der Berge Südmarokkos an. Sie sind auf der Suche nach Mar, ihrer Tochter und Schwester, die vor Monaten auf einer dieser niemals endenden, schlaflosen Partys verschwunden ist. Umgeben von elektronischer Musik und einem rohen, ungewohnten Gefühl von Freiheit, zeigen sie immer wieder ihr Foto herum. Die Hoffnung schwindet, doch sie geben die Suche nicht auf und folgen einer Gruppe von Ravern zu einer weiteren Party in der Wüste. Je tiefer sie in die glühende Wildnis vordringen, desto mehr zwingt sie die Reise, sich ihren eigenen Grenzen zu stellen.

Luis, gezeichnet von Müdigkeit und Verlust, bewegt sich wie ein Fremdkörper durch eine Welt, die er nicht versteht: die transnationalen Nomaden, die von einem Festival zum nächsten ziehen – Menschen, die in der Musik den einzigen Ausweg aus einer von Krisen zerfressenen Realität suchen. Dazu im Kontrast stehen die Bewohner der entlegenen Siedlungen, deren Alltag von Ressourcenknappheit und improvisierter Gemeinschaft geprägt ist. Letztendlich müssen sie alle gleichermaßen fliehen: vor Konflikten und drohenden Krieg – die einen unfreiwillig aus ihrem Zuhause und die anderen aus einer Gegend, in die sie gepilgert sind, um Ausflucht zu finden.

Visuell überzeugt der Film mit beinahe hypnotisierenden Bildern. Die Wüste ist nicht nur Kulisse, sondern ein lebendiger, fordernder Organismus. In dieser Weite wechseln sich lange, kontemplative Einstellungen mit rauschhaften Momenten ab. Besonders in den Rave-Sequenzen verschwimmen die Grenzen zwischen Kino und reiner Sinneserfahrung. Nahaufnahmen von verschwitzten Gesichtern und glitzernden Staubpartikeln kontrastieren mit totalen Einstellungen, die das menschliche Treiben wie ein flüchtiges Flackern in einer uralten Landschaft erscheinen lassen.


© Pandora Film / QuimVives

Der Klang spielt dabei eine ebenso zentrale Rolle wie das Bild. Die Techno-Beats reichen von Goa bis Trance und besonders in Dolby Atoms entfaltet sich dieser Sound nicht nur im Raum, sondern auch im Körper der Zuschauer. Die Bässe sind nicht Beiwerk, sondern Motor der Erzählung – sie treiben Luis und Esteban weiter, selbst dann, wenn sie am liebsten aufgeben würden. Laxe vertraut so stark auf den Klang, dass die Szenen oft wie visuelle Übersetzungen der Musik wirken: Bilder, die den Rhythmus atmen.

„Sirât“ ist kein Film, den man „einfach so“ sieht und danach zu alltäglichen Gesprächen übergeht. Er verlangt, dass man sich von ihm vereinnahmen lässt – von seinem Rhythmus, seiner Stille, seiner physischen Präsenz. Laxe formt hier kein konsumierbares Erzählkino, sondern eine radikale Sinneserfahrung. Die Figuren tasten sich Schritt für Schritt vor, über eine unsichtbare Brücke zwischen Himmel und Abgrund und zwingen das Publikum, denselben unsicheren Boden zu betreten.


SIRÂT

Start: 14.08.25 | FSK 16
R: Oliver Laxe | D: Sergi López, Bruno Núñez Arjona, Richard Bellamy
Spanien, Frankreich 2025 | Pandora Filmverleih


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