KINO | 04.06.2025

DIE LEISEN UND DIE GROSSEN TÖNE

Thibaut ist ein berühmter Dirigent, der die Konzertsäle der ganzen Welt bereist. In der Mitte seines Lebens erfährt er, dass er adoptiert wurde und dass er auch einen jüngeren Bruder hat, Jimmy, der in einer Schulküche arbeitet und Posaune in der Blaskapelle einer Arbeiterstadt spielt. Die beiden Brüder könnten unterschiedlicher nicht sein. Nur in einer Sache sind sie sich einig: ihrer Liebe zur Musik.

von Franziska Keil


© Neue Visionen Filmverleih

Der gefeierte Dirigent Thibaut (Benjamin Lavernhe) ist an Leukämie erkrankt und braucht einen Knochenmarkspender. Als er erfährt, dass er adoptiert wurde, begibt er sich auf die Suche nach Familienangehörigen, die ihm helfen könnten. Und tatsächlich findet er einen älteren Bruder, der Musiker und Fabrikarbeiter ist. Ihr Wiedersehen ist der Beginn einer brüderlichen und musikalischen Reise inmitten der Fabrikschließung der Stadt.

Emmanuel Courcols jüngster Film, "Die leisen und die großen Töne", der nun auch für das Heimkino erhältlich ist, erweist sich als eine warmherzige Tragikomödie, die gekonnt die vermeintlichen Gegensätze von tragischem Schicksal und unerwarteten Glücksmomenten miteinander verwebt. Der französische Filmemacher, bekannt für seine feinsinnigen Erzählungen, kreiert ein Werk, das den Zuschauer mit seiner emotionalen Tiefe und seinem unkonventionellen Humor berührt und nachdenklich stimmt. Der Film etabliert zunächst ein beklemmendes Leukämie-Drama um Thibaut, einen weltberühmten Dirigenten, dessen Leben jäh aus den Fugen gerät. Ein dramatischer Zusammenbruch während einer Probe markiert den Wendepunkt. Doch anstatt das Drama zu einer konventionellen Rettungsgeschichte durch den bis dato unbekannten Bruder Jimmy zu führen, wählt Courcol einen mutigen, unkonventionellen Ansatz. Die erfolgreiche Knochenmarkspende, die Jimmy nach kurzem Zögern vollzieht, dient lediglich als Katalysator für die Zusammenführung der ungleichen Geschwister. Dieses zentrale Ereignis wird überraschend knapp, beinahe beiläufig abgehandelt, was dem Film eine erfrischende Distanz zu gängigen Klischees verleiht. Ein kurzer, gestenreicher Moment im Krankenhaus genügt, um die Weichen für die eigentliche Erzählung zu stellen. Courcol verzichtet darauf, das Aufeinandertreffen des gefeierten Maestro mit einer Gruppe fast entlassener Laienmusiker, die größtenteils in derselben Fabrik wie Jimmy arbeiten, zu einem vorhersehbaren Spektakel des Aufeinanderprallens von Profession und Amateurismus verkommen zu lassen. Stattdessen schöpft der Film seine besten humoristischen Momente aus den kleinen Eitelkeiten und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Hobbytruppe. Benjamin Lavernhes subtile Mimik als Thibaut lässt das innere Leiden des Vollblutmusikers erahnen, wenn die Trompeter die Halbtöne verfehlen – ein Genuss für den Zuschauer, der die leisen Töne des Humors zu schätzen weiß. Das Drehbuch, das Courcol gemeinsam mit Khaled Amara und Irène Muscari verfasst hat, lässt die Weltbilder der aus verschiedenen Milieus stammenden Brüder aufeinanderprallen.


© Neue Visionen Filmverleih

Die schwere Erkrankung Thibauts, mit der er auf bemerkenswert selbstironische Weise umgeht, scheint ihn in der Folge kaum zu belasten. Dies mag auf den ersten Blick die Glaubwürdigkeit seines Schicksals untergraben, doch es dient einem höheren Zweck: Es lenkt den Fokus auf die spannende Frage, ob musikalisches Talent in den Genen liegen kann. Thibaut ist jedenfalls angesichts von Jimmys Gehör fest davon überzeugt, was zu reizvollen Reibereien führt. Die quirlige Sabrina, die in Jimmy mehr sieht als nur den Kantinenmitarbeiter, fungiert als treibende Kraft und versucht ihn immer wieder in die richtige Richtung zu schubsen. Ihre Dynamik belebt die Handlung und fügt eine weitere Ebene der Menschlichkeit hinzu. Erzählerisch beschreitet "Die leisen und die großen Töne" eigenwillige Pfade. Nach dem ungewöhnlichen Auftakt orientiert sich der Film lange an einer klassischen Musik- und Sportfilm-Dramaturgie. Die anstrengenden Proben steuern schnörkellos auf einen abschließenden großen Wettbewerb zu. Doch ehe der Auftritt von Jimmys Hobbytruppe mit einer Performance des weltberühmten Triumphmarsches aus Verdis "Aida" so richtig beginnt, wird das Geschehen auf herrlich absurde Weise unterbrochen, als sich die Bands in die Haare kriegen.

Dieser unerwartete Moment, durchsetzt mit Slapstick-Elementen, verleiht dem Film eine erfrischende Unberechenbarkeit und dämpft Jimmys "From-Zero-To-Hero"-Ambitionen auf eine Weise, die man nicht erwartet hätte. Im dritten Akt überrascht der Film mit einer rührenden Brudersequenz am Meer, die den Zuschauer ohne Vorwarnung auf den Boden der Tatsachen zurückholt, just wenn man sich in einem harmlosen Happy End wähnt. Dieses Crescendo an Emotionen bereitet den Weg für den zu erwartenden, abschließenden Wohlfühlmoment im Konzertsaal. Auch wenn dieses Finale ein Zugeständnis an das Publikum darstellt, das primär unbeschwerte Unterhaltung sucht, mindert es nicht die Gesamtqualität des Films. Es ist ein wohlverdientes, emotionales Highlight, das die vorhergehenden unkonventionellen Pfade stimmig abschließt. "Die leisen und die großen Töne" ist eine sehenswerte, einfühlsame Parabel auf den Wert der Versöhnung in einer sozial gespaltenen Gesellschaft. Emmanuel Courcol gelingt es, eine Geschichte zu erzählen, die über die reine Unterhaltung hinausgeht und eine tiefere Botschaft über Familie, Talent und die Verbindung zwischen ungleichen Menschen vermittelt. Der Film beweist, dass Tragik und Komik Hand in Hand gehen können und dass wahre Harmonie oft in den unerwartetsten Begegnungen gefunden wird. Wer nach einem Film sucht, der das Herz wärmt und gleichzeitig zum Nachdenken anregt, sollte sich "Die leisen und die großen Töne" unbedingt ansehen, der nun auch für das Heimkino erhältlich ist.


DIE LEISEN UND DIE GROSSEN TÖNE

ET: 28.05.25: DVD, Blu-ray und als VoD | FSK 0
R: Emmanuel Courcol | D: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco
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