Im
Sommer 1975 versammeln sich 35 Staats- und Regierungschefs aus Europa,
den USA und Kanada in der Finlandia-Halle in Helsinki zu einem beispiellosen
dreitägigen Spektakel des Kalten Krieges: Die Konferenz über
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, bekannt unter dem sexy Akronym
KSZE. Nach Jahren mühsamer Verhandlungen in Helsinki und Genf
sind alle Politstars hier, um die Schlussakte zu unterzeichnen.
Am
12. Juni startet Arthur Francks Dokumentarfilm "Der Helsinki
Effekt" in den deutschen Kinos und erweist sich als ein höchst
relevanter Beitrag zum Verständnis geopolitischer Dynamiken in
einer Zeit, in der die Nachkriegsordnung zunehmend fragil erscheint.
Franck konzentriert sich auf den zermürbenden diplomatischen
Prozess, der in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa (KSZE) gipfelte, und vermag es, ein vermeintlich trockenes
Thema mit beeindruckender Lebendigkeit und intellektueller Schärfe
zu präsentieren. Franck, in der deutschen Fassung gesprochen
von Schauspieler Bjarne Mädel, adressiert das Publikum direkt
und bekennt die Herausforderung, die Darstellung diplomatischer Konferenzen
– oft geprägt von stundenlangen Reden grauer Figuren in
kargen Sälen – fesselnd zu gestalten. Trotz der schier
unendlichen Fülle an Archivmaterial, die ihm zur Verfügung
stand, gelingt es dem Regisseur, die inhärent trockene Natur
dieser Ereignisse zu überwinden. Der Schlüssel liegt im
kunstvollen Einsatz ehemals geheimer Memos, die einen präziseren
Blick hinter die Kulissen erlauben und der Erzählung Dynamik
verleihen. Besonders hervorzuheben ist der innovative Einsatz von
KI-generierten Stimmen für zentrale Figuren wie den sowjetischen
Staatschef Leonid Breschnew und die amerikanische Eminenz Henry Kissinger.
Diese technologische Raffinesse erweckt die Ereignisse eines halben
Jahrhunderts zum Leben und ermöglicht es dem Zuschauer, in die
Gedankenwelten dieser Protagonisten einzutauchen.
Die Konferenz selbst war eine Initiative Breschnews,
dessen primäres Ziel eine schriftliche Garantie für die
Unantastbarkeit der europäischen Grenzen war. Ende der 1960er-Jahre
stellte kaum jemand die von Stalin 1945 in Jalta etablierten Nachkriegsgrenzen
infrage, die schließlich zum "Eisernen Vorhang" führten.
Doch Breschnews tiefsitzende Unsicherheiten bezüglich der sowjetischen
Position trieben ihn an, die europäischen Staats- und Regierungschefs
zu einer umfassenden Sicherheitsarchitektur zu drängen, die die
bestehenden Grenzen anerkannte Die europäischen Staaten, allen
voran der gerissene finnische Präsident Urho Kekkonen, der sich
bereit erklärte, die abschließende Konferenz auszurichten,
stimmten Breschnews Vorschlag nach langwierigen Vorverhandlungen in
Genf zu.
Dabei
einigte man sich auf drei "Körbe", die im Abkommen
behandelt werden sollten: Grenzfragen, Wirtschaft und Menschenrechte.
Es war insbesondere der dritte Korb, der die Menschenrechte, die Pressefreiheit
und den freien Personenverkehr umfasste, der dem Kreml erhebliche
Probleme bereitete. Breschnew und das Politbüro lehnten diesen
Korb vehement ab, da sie darin eine Bedrohung ihrer inneren Angelegenheiten
sahen. Doch der Wunsch Breschnews, sich in die Geschichtsbücher
einzuschreiben, war so groß, dass er letztlich einwilligte –
eine Entscheidung von ungeahnter Tragweite. Franck hat sichtlich Freude
daran, Breschnews offensichtliche Genugtuung über seinen vermeintlichen
diplomatischen Coup zu inszenieren. Beeindruckende Aufnahmen zeigen
US-Präsident Gerald Ford, wie er an der Seite eines strahlenden
Breschnew aus einem Sitzungsraum ins gleißende Licht des sommerlichen
Helsinki tritt.
Breschnew, der soeben die Schlussakte unterzeichnet
hat, kann seine Freude kaum verbergen. Doch, so die subtile und zugleich
kraftvolle Botschaft des Regisseurs, was Breschnew nicht ahnte: Der
dritte Korb sollte zur Initialzündung für die Dissidentenbewegungen
in der Sowjetunion, dem Baltikum, der Tschechoslowakei und anderen
osteuropäischen Staaten werden. Er legte eine direkte Linie zum
Zusammenbruch der sowjetischen Kontrolle Ende der 1980er-Jahre und
zur Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991. Der Film schafft
es, den Zuschauer auf beeindruckende Weise spüren zu lassen,
dass er selbst mit am Verhandlungstisch sitzt, eingebunden in die
subtilen Machtspiele und die verborgenen Hoffnungen. Genau das war
die tiefere Wirkung der Helsinki-Vereinbarung: Was Breschnew als ein
reines politisches Ordnungsvorhaben zur Festigung der bestehenden
Machtverhältnisse ansah, wurde von unzähligen gewöhnlichen
Menschen als eine große Chance empfunden. Es war eine Bestätigung
der Idee von Demokratie und Freiheit in Europa, die einen Keim säte,
dessen Blüte die sowjetische Hegemonie letztlich hinwegfegte.
Die Konferenz führte letztlich zur Gründung der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die bis heute
als zentrale internationale Instanz für Demokratieüberwachung
und Konfliktprävention tätig ist.
DER HELSINKI EFFEKT
Start:
12.06.25 | FSK 0
R: Arthur Franck | Dokumentarfilm
Finnland 2025 | Rise and Shine Cinema