KINO | 04.06.2025

DER HELSINKI EFFEKT

Im Sommer 1975 versammeln sich 35 Staats- und Regierungschefs aus Europa, den USA und Kanada in der Finlandia-Halle in Helsinki zu einem beispiellosen dreitägigen Spektakel des Kalten Krieges: Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, bekannt unter dem sexy Akronym KSZE. Nach Jahren mühsamer Verhandlungen in Helsinki und Genf sind alle Politstars hier, um die Schlussakte zu unterzeichnen.

von Richard-Heinrich Tarenz


© YLE – Finnish Broadcasting Company

Am 12. Juni startet Arthur Francks Dokumentarfilm "Der Helsinki Effekt" in den deutschen Kinos und erweist sich als ein höchst relevanter Beitrag zum Verständnis geopolitischer Dynamiken in einer Zeit, in der die Nachkriegsordnung zunehmend fragil erscheint. Franck konzentriert sich auf den zermürbenden diplomatischen Prozess, der in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) gipfelte, und vermag es, ein vermeintlich trockenes Thema mit beeindruckender Lebendigkeit und intellektueller Schärfe zu präsentieren. Franck, in der deutschen Fassung gesprochen von Schauspieler Bjarne Mädel, adressiert das Publikum direkt und bekennt die Herausforderung, die Darstellung diplomatischer Konferenzen – oft geprägt von stundenlangen Reden grauer Figuren in kargen Sälen – fesselnd zu gestalten. Trotz der schier unendlichen Fülle an Archivmaterial, die ihm zur Verfügung stand, gelingt es dem Regisseur, die inhärent trockene Natur dieser Ereignisse zu überwinden. Der Schlüssel liegt im kunstvollen Einsatz ehemals geheimer Memos, die einen präziseren Blick hinter die Kulissen erlauben und der Erzählung Dynamik verleihen. Besonders hervorzuheben ist der innovative Einsatz von KI-generierten Stimmen für zentrale Figuren wie den sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew und die amerikanische Eminenz Henry Kissinger. Diese technologische Raffinesse erweckt die Ereignisse eines halben Jahrhunderts zum Leben und ermöglicht es dem Zuschauer, in die Gedankenwelten dieser Protagonisten einzutauchen.

Die Konferenz selbst war eine Initiative Breschnews, dessen primäres Ziel eine schriftliche Garantie für die Unantastbarkeit der europäischen Grenzen war. Ende der 1960er-Jahre stellte kaum jemand die von Stalin 1945 in Jalta etablierten Nachkriegsgrenzen infrage, die schließlich zum "Eisernen Vorhang" führten. Doch Breschnews tiefsitzende Unsicherheiten bezüglich der sowjetischen Position trieben ihn an, die europäischen Staats- und Regierungschefs zu einer umfassenden Sicherheitsarchitektur zu drängen, die die bestehenden Grenzen anerkannte Die europäischen Staaten, allen voran der gerissene finnische Präsident Urho Kekkonen, der sich bereit erklärte, die abschließende Konferenz auszurichten, stimmten Breschnews Vorschlag nach langwierigen Vorverhandlungen in Genf zu.


© The U.S. National Archives

Dabei einigte man sich auf drei "Körbe", die im Abkommen behandelt werden sollten: Grenzfragen, Wirtschaft und Menschenrechte. Es war insbesondere der dritte Korb, der die Menschenrechte, die Pressefreiheit und den freien Personenverkehr umfasste, der dem Kreml erhebliche Probleme bereitete. Breschnew und das Politbüro lehnten diesen Korb vehement ab, da sie darin eine Bedrohung ihrer inneren Angelegenheiten sahen. Doch der Wunsch Breschnews, sich in die Geschichtsbücher einzuschreiben, war so groß, dass er letztlich einwilligte – eine Entscheidung von ungeahnter Tragweite. Franck hat sichtlich Freude daran, Breschnews offensichtliche Genugtuung über seinen vermeintlichen diplomatischen Coup zu inszenieren. Beeindruckende Aufnahmen zeigen US-Präsident Gerald Ford, wie er an der Seite eines strahlenden Breschnew aus einem Sitzungsraum ins gleißende Licht des sommerlichen Helsinki tritt.

Breschnew, der soeben die Schlussakte unterzeichnet hat, kann seine Freude kaum verbergen. Doch, so die subtile und zugleich kraftvolle Botschaft des Regisseurs, was Breschnew nicht ahnte: Der dritte Korb sollte zur Initialzündung für die Dissidentenbewegungen in der Sowjetunion, dem Baltikum, der Tschechoslowakei und anderen osteuropäischen Staaten werden. Er legte eine direkte Linie zum Zusammenbruch der sowjetischen Kontrolle Ende der 1980er-Jahre und zur Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991. Der Film schafft es, den Zuschauer auf beeindruckende Weise spüren zu lassen, dass er selbst mit am Verhandlungstisch sitzt, eingebunden in die subtilen Machtspiele und die verborgenen Hoffnungen. Genau das war die tiefere Wirkung der Helsinki-Vereinbarung: Was Breschnew als ein reines politisches Ordnungsvorhaben zur Festigung der bestehenden Machtverhältnisse ansah, wurde von unzähligen gewöhnlichen Menschen als eine große Chance empfunden. Es war eine Bestätigung der Idee von Demokratie und Freiheit in Europa, die einen Keim säte, dessen Blüte die sowjetische Hegemonie letztlich hinwegfegte. Die Konferenz führte letztlich zur Gründung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die bis heute als zentrale internationale Instanz für Demokratieüberwachung und Konfliktprävention tätig ist.


DER HELSINKI EFFEKT

Start: 12.06.25 | FSK 0
R: Arthur Franck | Dokumentarfilm
Finnland 2025 | Rise and Shine Cinema


AGB | IMPRESSUM