KINO | 26.07.2023

OPPENHEIMER

Das von Christopher Nolan geschriebene und inszenierte IMAX®-Thrillerepos OPPENHEIMER konfrontiert das Publikum mit dem pulsierenden Paradoxon jenes rätselhaften Mannes, der die Zerstörung der Welt riskieren muss, um sie zu retten.

von Richard-Heinrich Tarenz


© Universal Pictures. All Rights Reserved.

Mit OPPENHEIMER präsentiert Regisseur Christopher Nolan („Interstellar“) präsentiert ein bildgewaltiges cineastisches Meisterwerk, das sich zu Beginn viel Zeit lässt, dann jedoch eine erzählerische Wucht entwickelt, der man sich nur schwer entziehen kann. Das dreistündige Biopic ist beeindruckend, monumental und emotional bewegend. Die gesellschaftliche Aussage dieses Films ist zeitlos und angesichts des bedrückenden Zustands der Welt aktuell und relevant. Christopher Nolan erweist sich bei OPPENHEIMER erneut als Meister der cineastischen Inszenierung. Wie schon zuvor in TENET, ist in diesem Film sehr viel handgemacht, was die Spezialeffekte anbelangt. Das Ergebnis kann sich im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen. Für Christopher Nolan ist Zeit ein elementares Thema. Der Film spielt auf mehreren Zeitebenen. Der Versuch, die Erkenntnisse der großen physikalischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts visuell greifbar zu machen. Quantenmechanik und Relativität. Was ist Realität? Durch die große physikalische Revolution wurden Gewissheiten zerstört, Menschen verunsichert und die Welt an den Abgrund gebracht.

Die Physik entkoppelte sich von den Alltagserfahrungen der Menschen. Eine Entwicklung, die bis zum heutigen Tag andauert. Die Atomspaltung gibt den Menschen eine ungeheure Macht. Welche Verantwortung tragen Wissenschaftler? Durfte man die Atombombe und später die Wasserstoffbombe auf die Menschheit loslassen? Laut Oppenheimer sollte die Atombombe jegliche Kriege für die Zukunft unmöglich machen. Nichts könnte unwahrer sein. Nach 1945 starben Millionen von Menschen, Kriege sind für die Herrschenden dieser Welt eine gangbare Verlängerung der Politik mit anderen Mitteln. All diese Fragen wirft OPPENHEIMER auf. Robert J. Oppenheimer verkörpert wie kein anderer Wissenschaftlicher diese innere Zerrissenheit. Christopher Nolan verpackt diese Fragen in überwältigende Bilder mit einem grandiosen und hypnotischen Sound von Ludwig Göransson. Der Film ist in weiten Teilen eine rauschhafte Erfahrung. Auch wenn das Publikum nicht diese Unterrichtung in theoretischer Physik und das politische Ränkespiel komplett versehen mag, kann man sich der soghaften Faszination von OPPENHEIMER nur schwer entziehen.


© Universal Pictures. All Rights Reserved.

Das liegt auch an der überragenden schauspielerischen Leistung von Cillian Murphy. Der Spielfilm basiert auf dem preisgekrönten Sachbuch „J. Robert Oppenheimer: Die Biographie“ und arbeitet bewusst mit einer in sich verschachtelten Erzählstruktur mit Rückblenden, Zeitsprüngen und einer strengen Unterscheidung zwischen farbigen und schwarz-weiß Passagen. Objektivität und Subjektivität wird scheinbar zu einem Kriterium. Doch was ist wahr und was ist falsch? Die Quantenmechanik wird für Oppenheimer zum Wendepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere. Er ist fasziniert von dem neuen Blick auf die Realität. Wahrscheinlichkeiten bestimmten das Sein. So auch im Film. Realität erscheint subjektiv. Das alles macht die komplexe Erzählstruktur von OPPENHEIMER nicht leichter zu verstehen, doch das ist der Punkt.

Die Suche nach objektiver Wahrheit durch das Publikum wird gespiegelt in der subjektiven Welt der Wahrscheinlichkeiten. Man muss sich auf diesen Film einlassen, ihn fühlen, akzeptieren. Dafür wird man belohnt mit einem machtvollen Biopic, in dessen Mittelpunkt die faszinierende Figur des genialen Physikers steht, der zur tragischen Figur wird. Man kann die innere Zerrissenheit geradezu mit Händen greifen. Regisseur Christopher Nolan versteht es in OPPENHEIM meisterhaft, durch die Symbiose von Bild und Ton ein cineastisches Meisterwerk zu erschaffen, dass sich von einem interessanten Biopic in einen spannenden und nervenaufreibenden Thriller verwandelt. Ein Thriller der Außen- und der Innenwelt. Ein Thriller der Zerrissenheit von Robert J. Oppenheimer.


© Universal Pictures. All Rights Reserved.

Cillian Murphy verkörpert diese Zerrissenheit in einer beispiellosen körperlichen Greifbarkeit. Der Film entführt das Publikum in die innere Gedankenwelt dieses Mannes, die so komplex ist wie die Welt der theoretischen Physik. Es ist diese innere Welt, die Verbindung von Realität und Traumwelten, die Visualität von abstrakter Mathematik, die den Film so stark werden macht. Genau wie die leisen Zwischentöne. Dementsprechend reduziert Nolan bewusst den zentralen Moment des Films, den Atombombentest in der Wüste von Los Alamos und macht ihn damit noch grauenerregender. Wir vernehmen minimale Musik, das Atmen der Wissenschaftler und erleben den Moment, an dem Welt sich für immer veränderte. Auch das Grauen der beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki wird lediglich angedeutet und zeigt stattdessen das Gesicht der Protagonisten und das Schrecken über die Entfesslung dieser apokalyptischen Macht. Einer Macht, für welche die Menschheit nicht reif war und es vielleicht niemals sein wird.

Dieser Film ist stets nah an seinen Figuren, was ihn stark und überzeugend macht. Der Cast, angeführt von Cillian Murphy und Robert Downey Jr. leistet dabei eine großartige Arbeit. An dieser Stelle muss man Emily Blunt als Kitty Oppenheimer speziell erwähnen, die eine unglaublich überzeugende und dichte schauspielerische Leistung abliefert. Ihre Rede gegen Ende des Films bleibt unweigerlich in Erinnerung. Dank ihr wird diese sehr interessante Figur greifbar und lebendig. An dieser Rede wird deutlich, dass OPPENHEIMER viel mehr als eine beeindruckende Geschichtsstunde und ein interessantes Biopic. Es ist eine rauschhafte und faszinierende Erfahrung, die man so schnelle nicht vergessen wird.


OPPENHEIMER

Start: 20.07.23 | FSK 12
R: Christopher Nolan | D: Cillian Murphy, Emily Blunt, Matt Damon
USA 2023 | Universal Pictures Germany


AGB | IMPRESSUM