SACHBUCH
| 11.09.2024
Seelenzauber
Aus Wien in die Welt – Das Jahrhundert der Psychologie
„Seelenzauber“
beschreibt die Entstehung der Psychotherapie im Wien des Fin-de-Siècle
und erzählt die faszinierende Geschichte von Visionären wie
Freud, Jung und Adler, die das Konzept des persönlichen Wohlbefindens
und die revolutionäre Idee der Heilung der Psyche prägten,
was die Psychologie zu einer der einflussreichsten Wissenschaften des
20. Jahrhunderts machte.
von
Steffie Sallieri
Was
ist ein Mensch? Wo beginnt die Neurose? Ist das sexuelle Verlangen die
Quelle aller Wünsche? Lassen sich Traumata, Ängste und Depressionen
auflösen? Und was, nebenbei bemerkt, ist der Sinn des Lebens? Dieses
farbenfrohe und lebendig geschriebene Buch führt uns zurück
in die Geburtsstunde der Psychotherapie im Wien des Fin-de-Siècle.
Es erzählt die faszinierende Geschichte von Visionären wie
Freud, Jung, Adler und anderen, die das erfanden, was zu einer der Säulen
der westlichen Zivilisation wurde – das Versprechen von persönlichem
Wohlbefinden. Es ist jener Wandel im Denken, der die Psychologie zu
einer der prägendsten Wissenschaften des 20. Jahrhunderts machte
– und mit der Psychoanalyse einen intellektuellen wie gesellschaftlichen
Trend auslöste. Die Abgründe der »Seele« kannte
man auch vor dieser Zeit. Doch die Vorstellung, man könne die Psyche
heilen, den Menschen verbessern und seine Potenziale optimieren –
diese Idee war neu und revolutionär.
In
seinem umfassenden Werk „Seelenzauber“ gelingt es Steve
Ayan, komplexe psychologische Themen in eine fesselnde Erzählung
zu verpacken, die sowohl für Fachleute als auch für Laien
zugänglich ist. Das Buch entführt die Leser in das Wien des
Fin de Siècle, einer Zeit des kulturellen Wandels und der intellektuellen
Aufbrüche, und beleuchtet die Anfänge der Psychotherapie durch
die Linse bedeutender Persönlichkeiten wie Sigmund Freud, Carl
Gustav Jung und Alfred Adler. Ayan thematisiert nicht nur die Errungenschaften
dieser Pioniere, sondern auch ihre Konflikte und die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen, die ihre Theorien prägten. Ayan setzt sich intensiv
mit dem historischen Kontext auseinander, in dem diese Denker wirkten.
Das Wien der Jahrhundertwende war ein Schmelztiegel von Ideen, in dem
Okkultismus und Wissenschaft oft miteinander verwoben waren.
C.G.
Jung, dessen Cousine Okkultistin war und Seancen veranstaltete, wird
als Beispiel für den Einfluss des Okkulten auf die psychologische
Theorie herangezogen. Ayan zeigt auf, wie Jung an die Existenz überschüssiger
seelischer Energien glaubte, die sich in physischen Erscheinungen manifestieren
könnten – eine Idee, die im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft
und Mystik steht. Das Buch behandelt eine Vielzahl psychologischer Konzepte
wie Verdrängung, Neurosen und Hysterie. Ayan kritisiert Freuds
dogmatische Fixierung auf Sexualität als Hauptursache psychischer
Erkrankungen und beleuchtet den Fall von „Anna O.“ –
einer seiner bekanntesten Patientinnen. Trotz Freuds Behauptungen über
den Behandlungserfolg bleibt unklar, ob tatsächlich nachhaltige
Heilung erreicht wurde.
Diese
kritische Betrachtung zieht sich durch das gesamte Werk und regt dazu
an, gängige Annahmen über die Psychoanalyse zu hinterfragen.
Ayan geht auch auf den Dogmatismus innerhalb der psychologischen Gemeinschaft
ein. Die Rivalitäten zwischen Freud, Adler und Jung werden detailliert
dargestellt; ihre unterschiedlichen Ansätze zur Psychologie führten
nicht nur zu intellektuellen Konflikten, sondern auch zu einem Mangel
an Offenheit für alternative Sichtweisen. Dies wird besonders deutlich
in Ayans Analyse von Freuds Libido-Theorien und deren weitreichenden
Auswirkungen auf das Verständnis psychischer Erkrankungen. Neben
der klassischen Psychoanalyse beleuchtet Ayan auch andere psychologische
Strömungen wie Alfred Adlers Individualpsychologie und Wilhelm
Reichs Charakteranalyse.
Er
zeigt auf, wie diese Ansätze in den USA populär wurden und
welche Rolle soziale Beziehungen im individuellen Wohlbefinden spielen
können. Besonders Adlers Konzept der Minderwertigkeit wird als
bedeutend hervorgehoben. Darüber hinaus werden moderne therapeutische
Ansätze wie die kognitive Verhaltenstherapie angesprochen, die
evidenzbasiert ist und zunehmend an Bedeutung gewinnt. Ayan stellt fest,
dass viele der ursprünglichen Theorien von Freud heute kritisch
hinterfragt werden – ein Zeichen für den fortwährenden
Wandel im Verständnis menschlicher Psyche. Ayan nimmt auch eine
klare Position gegen rassistische und okkultistische Strömungen
ein, wie sie beispielsweise von Rudolf Steiner oder Helena Blavatsky
vertreten wurden. Diese Bewegungen werden als gefährlich dargestellt
und stehen im Gegensatz zu den rationalen Ansätzen der Aufklärung.
Der Autor plädiert dafür, dass wissenschaftliche Methoden
Vorrang vor esoterischen Überzeugungen haben sollten.
„Seelenzauber“ ist
ein bemerkenswertes 360-seitiges Werk, das nicht nur historische Fakten
präsentiert, sondern auch tiefere Einsichten in die Entwicklung
der Psychotherapie bietet. Steve Ayan gelingt es meisterhaft, komplexe
Themen verständlich darzustellen und sie im kulturellen Kontext
ihrer Entstehung zu verankern. Sein fundiertes Wissen über die
Materie macht das Buch zu einer wertvollen Lektüre für alle
Interessierten – sei es aus persönlichem Interesse oder beruflicher
Perspektive. Am Ende bleibt die Frage nach dem Erbe dieser Denker: Was
hat Bestand? Ayan lädt seine Leser ein, darüber nachzudenken
und ermutigt sie dazu, sich mit den Entwicklungen der Psychologie auseinanderzusetzen
– sowohl mit ihren Errungenschaften als auch mit ihren Schattenseiten.
In einer Zeit des Wandels bleibt „Seelenzauber“ ein wichtiger
Beitrag zur Diskussion über das Verständnis menschlicher Psyche
und deren Behandlungsmöglichkeiten. Steffie Sallieri
Steve
Ayan, geboren 1971, ist Psychologe und Wissenschaftsjournalist.
Er studierte in Berlin, Düsseldorf, Reading und Neapel. Der langjährige
Redakteur der Zeitschrift ›Gehirn & Geist‹ in Heidelberg
gilt als ein genauer Kenner der Neuropsychologie und Bewusstseinsforschung.
Zuletzt erschienen von ihm ›Lockerlassen‹ (2016), ›Ich
und andere Irrtümer‹ (2019) und ›Was man noch sagen
darf‹ (2022).
SEELENZAUBER
Aus Wien in die Welt – Das Jahrhundert der Psychologie
Steve
Ayan (Autor) | dtv Verlagsgesellschaft | Gebundene Ausgabe: 400 Seiten
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