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SACHBUCH | 31.03.2021

Gefangene der Zeit

In seinem neuen Buch „Gefangene der Zeit“ entwirft der britische Historiker Christopher Clarke ein wort- und wirkgewaltiges zeithistorisches Gemälde von Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump.

von Richard-Heinrich Tarenz


© Alexander Hein

Was hat der Brexit mit Bismarck zu tun? Was verbindet die antike Alexanderschlacht bei Issus mit der Schlacht gegen Napoleon bei Jena 1806? Was lehren uns Psychogramme aus dem Dritten Reich über Gehorsam und Courage? Und wie lässt sich Weltgeschichte schreiben, ohne dabei dem Eurozentrismus verhaftet zu bleiben? Christopher Clark, der mit seinen Büchern über Preußen und den Beginn des Ersten Weltkriegs Millionen Leser begeistert hat, beweist mit seinem neuen Band, wie vielfältig seine Interessen als Historiker sind. In insgesamt 13 ebenso klugen wie elegant geschriebenen Essays, die hier erstmals auf Deutsch vorliegen, zeigt er, wie sehr historische Ereignisse und Taten, Vorstellungen von Macht und Herrschaft über die Zeiten hinweg fortwirken – bis heute…

TEMPO MUERTO. So wurde im New Orleans des frühen 19. Jahrhunderts die Monate genannt, in denen das tödliche Gelbfieber die Stadt heimsuchte. Der Tod war in diesen Tagen in der Stadt am Mississippi River ein ständiger Begleiter der Menschen. Für den britischen Historiker, vielfach ausgezeichnet für seine Bücher „Preußen“ und „Die Schlafwandler“, betrifft diese Bezeichnung, die man mit toter Zeit übersetzen kann, auch auf einen wichtigen Aspekt der aktuellen Pandemie zu. Er meint damit die „große Entschleunigung“, welche die Menschheit global erfasst hat. In seinem neuen Buch „Gefangene der Zeit“ finden sich 13 Essays, die sich mit Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump beschäftigen. In gewohnter Manier, brilliert Clark mit intellektueller Scharfsinnigkeit und großer schriftstellerischer Eleganz. In einer Zeit, in welcher die Zeit scheinbar stillzustehen scheint und sich „um jede einzelne Aufgabe konzentriert“, wagt der Autor den großen Wurf und zeigt auf, wie sehr historische Taten, Vorstellungen von Macht und Herrschaft über die Zeiten hinweg fortwirken – bis heute.

Mit seinem Buch „Gefangene der Zeit“ bricht der Autor eine Lanze für das Essay, eine literarische Form, die in den vergangenen Jahren leider nicht immer die Aufmerksamkeit bekam, die ihr gebühren sollte. In seinem Buch präsentiert Christopher Clark 13 Essays, die elegant geschrieben sind und die enorme Bandbreite der Interessen des Autors als Historiker widerspiegeln. Ein Essay zeichnet sich durch die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit einem Thema aus. Der Essayist hat dabei relativ große Freiheiten. Ein Essay wird zumeist dialektisch verfasst: mit Strenge in der Methodik, nicht aber in der Systematik. Essays sind Denkversuche, Deutungen – unbefangen, oft zufällig scheinend. Ein guter und gelungener Essay sollte im Gedanken scharf, in der Form klar und im Stil geschmeidig sein. Mit den in seinem Buche enthaltenen 13 Essays setzt Clark eine Tradition fort, die im 16 Jahrhundert von Michel de Montaigne begründet wurde.

Das Buch „Gefangene der Zeit“ zeichnet sich durch den Umstand aus, dass es komplizierte Sachverhalte aus der Geschichte und Gegenwart deutlich macht und Zusammenhänge erkennbar und verständlich formuliert. Christopher Clark versteht es meisterhaft mit einer ansprechenden gedanklichen Eleganz seine Gedanken zu den unterschiedlichsten Themen zu formulieren. So entsteht ein zeithistorisches Gemälde, dass den Leser auf eine spannende und informative Reise durch die Jahrhunderte mitnimmt. Der Autor versteht es sehr gut, die auf den ersten Blick nicht erkennbaren Verbindungen zwischen den einzelnen Epochen deutlich zu machen. Die Pest von 1348 und die heutige Pandemie, Nebukadnezar und Donald Trump. Die Geschichte ist eine Ansammlung von wiederkehrenden Mustern, die einer stetigen Entwicklung unterliegen.

Christopher Clark sagte einmal, „Geschichte ist nichts Abgetrenntes, sondern die Gegenwart ist die Fortführung der Geschichte. Geschichte ist nicht Vergangenheit.“ Dieses Credo des Autors kommt in diesem Buch sehr gut zur Geltung. Für ihn ist Macht, in Vergangenheit wie Gegenwart, keine Eigenart, die man Gruppen oder Personen zuschreiben kann. In der Macht drückt sich vielmehr eine Beziehung untereinander aus. Und genau dieser Beziehung spürt der Autor in diesem Buch durch Jahrhunderte nach. Er zeigt auf, dass die Inhaber der Macht immer Gefangene ihrer spezifischen Zeit waren und es bis zum heutigen Tage sind. Das beeindruckende an diesem Buch ist der Umstand, dass der Autor über ein beeindruckendes Wissen verfügt, dass weit über sein Fachgebiet als Historiker hinausgeht. Dies ermöglicht ihm, auf eine intellektuell höchst ansprechende Art und Weise, Querverbindungen herzustellen, die auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen und sich anschließend in ihrer gesamten Wirkkraft erschließen.

Christopher Clark, geboren 1960, lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Preußens. Er ist Autor einer Biographie Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers. Für sein Buch „Preußen“ erhielt er 2007 den renommierten Wolfson History Prize sowie 2010 als erster nicht-deutschsprachiger Historiker den Preis des Historischen Kollegs. Sein epochales Buch über den Ersten Weltkrieg, „Die Schlafwandler“ (2013), führte wochenlang die deutsche Sachbuch-Bestseller-Liste an und war ein internationaler Bucherfolg. Zuletzt erschien von ihm der vielbeachtete Bestseller „Von Zeit und Macht“ (2018).


GEFANGENE DER ZEIT
Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump

CHRISTOPHER CLARK | Deutsche Verlags-Anstalt | Gebundene Ausgabe: 336 Seiten


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