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SACHBUCH | 19.07.2023

NO LIMIT

Mit „No Limit: Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“ präsentiert Autor und Kolumnist Jens Balzer ein spannendes, informatives und Porträt der 1990er Jahre. Ein Jahrzehnt voller Hoffnungen und Aufbrüche, dass jäh am 11. September 2001 endete.

von Franziska Keil

Es gibt keine Grenzen mehr: Das glaubt man jedenfalls am Beginn der Neunzigerjahre. Die Berliner Mauer fällt, die Welt ru¨ckt zusammen, und sie vernetzt sich. Die ersten Knoten des World Wide Web werden geknu¨pft, die ersten Suchmaschinen programmiert. In Berlin wird Techno zum Soundtrack der Wiedervereinigung, Neonfarben beherrschen das Bild, Piercings und Tätowierungen erobern den Mainstream, das Arschgeweih gerät zum stilistischen Symbol der Dekade. Aber unter der heiteren Oberfläche brechen alte Konflikte auf, Gespenster aus der Vergangenheit kehren zuru¨ck. Im Osten Deutschlands, aber nicht nur dort, entsteht eine rechte Jugendkultur bislang ungekannten Ausmaßes. Im zerfallenden Jugoslawien geschieht das Unfassbare: der erste Krieg in Europa seit 1945. Der politische Islam wird zur globalen Bedrohung, und das lange Jahrzehnt endet am 11. September 2001 mit dem Anschlag auf das World Trade Center, das auch ein Symbol der spielerischen, globalisierten Postmoderne gewesen ist.

Dieses Buch ist die gelungene und lesenswerte Fortsetzung der beiden Bücher „Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er“ und „High Energy: Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt“. Dieses Mal geht es um die 1990er Jahre, ein besonderes Jahrzehnt voller Hoffnungen und Aufbrüche. Diese Jahre sind liegen noch gar nicht so lange hinter uns, und doch scheinen sie eine gefühlte Ewigkeit her. Persönlich habe ich mich sehr auf dieses Buch gefreut, waren doch die beiden ersten Bücher informativ, unterhaltsam und großartig geschrieben. Und genau in diesem Stil macht der Autor nun weiter. Das Buch, erschienen im Rowohlt Verlag umfasst als gebundene Ausgabe 384 Seiten mit zahlreichen Fotos und Abbildungen. Leider gibt es, wie schon in den vorigen Büchern der Reihe, keine Anmerkungen oder Literaturverweise.

Was macht den Reiz von Rückblicken aus? Da gibt es die persönliche Komponente, die eigenen Erinnerungen. Das ist unterhaltsam und schön. Doch viel informativer und interessanter ist der Vergleich und die Einordnung mit der heutigen Zeit. Die 1990er waren ein politisches Jahrzehnt, ein Jahrzehnt der dramatischen Umbrüche und der Hoffnungen, welches jäh und ernüchternd am 11. September 2001 endete. Dementsprechend fällt dieses Buch sehr viel politischer aus als seine Vorgänger. In diesem Jahrzehnt setzt sich der Zusammenbruch des Ostblocks fort und die Teilung Deutschlands muss nach der Wiedervereinigung überwunden werden. Vieles scheint in diesen Jahren möglich. Damals wurden die Weichen für Entwicklungen gelegt, die nun von großer Bedeutung sind. Durch diesen politischen Schwerpunkt in diesem Buch bleibt bisweilen die Kulturgeschichte etwas auf der Strecke, was schade ist. Doch letztendlich ist ein solches Buch eine subjektive Auswahl des Autors. Sehr überzeugend wird dieses Buch, wenn es Verbindungen und Zusammenhänge herstellt. Wenn postmoderne Theorien auf die vorherrschende Popkultur angewandt werden.

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. für die „Zeit“, „Rolling Stone“, den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“ und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch „Pop“, 2019 „Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er“ und 2021 „High Energy: Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt“. Dann werden die großen Fragen sichtbar, Geschichte als Erklärungsmuster. Waren die 1990er Jahre in der subjektiven Erinnerung ein unpolitisches Jahrzehnt, ist doch in diesen Jahren enorm viel passiert. Bei der Lektüre dieses Buches wird klar, dass Politik und Popkultur sich nicht sehr gut vertragen.

Der Autor leitet das sehr gut her. Eine packende Analyse, die ein Höhepunkt des Buches ist. Es verbindet die wichtigsten politischen Ereignisse, technische Neuerungen, neue Bedürfnisse und kulturelle Veränderungen. Es ist eine packende Zeitreise und vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Ereignisse, eine lehrreiche und aufschlussreiche Beschäftigung mit der eigenen Existenz und den großen Fragen. Jens Balzer schafft erneut das Unmögliche und packt ein umfassendes Jahrzehnt in 384 Seiten und erweist sich dabei als unterhaltsamer und talentierter Erzähler. Man darf gespannt sein, was das noch folgen mag.


NO LIMIT
Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

Jens Balzer (Autor) | Rowohlt Berlin | Gebundene Ausgabe: 384 Seiten


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