FILME | 06.01.2021

Maryam Zaree
Die Schauspielerin, Filmemacherin und Autorin im Interview

Anlässlich des Kinostarts von BORN IN EVIN am 17. Oktober 2019 sprachen wir der Regisseurin Maryam Zaree auf dem Filmfestival Cologne. Zum Verkaufsstart der preisgekrönten Dokumentation auf DVD möchten wir das Interview erneut veröffentlichen. Die Aussagen der Schauspielerin, Filmemacherin und Autorin haben auch nach mehr als einem Jahr nicht an Aktualität eingebüßt.

von Eve Pohl & Richard-Heinrich Tarenz


© Real Fiction Filmverleih

Maryam Zaree wurde im Evin-Gefängnis in der iranischen Hauptstadt Teheran geboren. 1985 flüchtete ihre Mutter, die Frankfurter Lokalpolitikerin Nargess Eskandari-Grünberg, mit ihr wegen politischer Verfolgung nach Deutschland. Ab ihrem zweiten Lebensjahr wuchs sie in Frankfurt am Main auf. Ihr Schauspielstudium absolvierte sie von 2004 bis 2008 in der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam an der staatlichen Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in der Medienstadt Babelsberg. Bekannt wurde sie durch die Hauptrolle Maryam in dem Kinofilm „Shahada“ von Burhan Qurbani. Der Film lief im offiziellen Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2010 und wurde in Deutschland sowie auf verschiedenen internationalen Festivals prämiert. Maryam Zaree wurde für schauspielerische Leistung in „Shahada“ mehrfach ausgezeichnet. In der Folgezeit spielt sie zahlreiche Hauptrollen in erfolgreichen Kinofilmen.

Im deutschen Fernsehen ist sie von 2015 bis 2019 in der durchgehenden Rolle der Gerichtsmedizinerin Nasrin Reza im Berliner Tatort um das Ermittlerteam Rubin und Karow zu sehen gewesen. In der Serie „4 Blocks“ spielt sie Khalila, eine der weiblichen Hauptrollen. Maryam Zaree ist Gastschauspielerin an verschiedenen deutschen Theatern, u. a. am Schauspielhaus Hannover und in Berlin am Maxim-Gorki-Theater, an der Schaubühne am Lehniner Platz und am Ballhaus Naunynstraße. Sie arbeitet außerdem als Autorin und Regisseurin. Mit ihrem ersten Theaterstück „Kluge Gefühle“ gewann sie den AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts 2017. Mit „Born in Evin“, ihrem eindrucksvollen Debüt als Filmregisseurin 2019, kehrte sie zu ihrem Lebensanfang im Evin-Gefängnis zurück. Der Film wurde 2020 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet.

Warum haben Sie sich entschieden „Born in Evin“ zu drehen? Gab es einen Initialmoment?

Maryam Zaree: Es lässt sich nicht so ganz auf einen einzelnen Moment zurückführen, es sind verschiedene unterschiedliche Momente gewesen. Aber ein wichtiger Aspekt ist, dass ich bereits seit zehn Jahren mit Yael Ronen, einer israelischen Theaterregisseurin, als Dramaturgin und Co-Autorin arbeite. Yael Ronen macht sehr politisches Theater, geht aber auch von den biografischen Geschichten der Künstler und der Schauspieler aus und erarbeitet so in einem gemeinsamen Prozess die Theaterstücke. Da habe ich mitgearbeitet, sowohl als Schauspielerin, als auch als Dramaturgin. Das heißt, diese Fragestellung, wann hat es autobiografische Anteile, wann hat es einen universellen Wert, wann deutet es über sich hinaus, wann ist es politisch, wann ist es nur privat. Diese Auseinandersetzung war schon lange Teil meiner Arbeit. Spezifisch auf „Born in Evin“ bezogen, gab es schon ganz früh dieses Gefühl in Bezug auf meinen Vater. Ich wollte gar keinen Film machen dazu, dachte aber immer: Okay, hier im privaten Kontext, oder in unserem Familienkontext tragen wir so eine Zeugenschaft mit uns und mein Vater weiß um bestimmte Dinge und es gibt keine juristische Aufarbeitung bis zum heutigen Tag.

Wenn mein Vater verschwinden wird, wird auch diese Zeugenschaft verschwinden und das hat mir immer Sorge bereitet. Ganz früh habe ich schon immer mal mein Handy mitlaufen lassen, wenn er erzählt hat, um es aufzunehmen, weil ich das Gefühl hatte, das muss bewahrt werden. Aber das war alles viel mehr aus einem archivierenden Gedanken heraus, als aus dem Gedanken heraus, wie man eine künstlerische, filmische Übersetzung daraus machen könnte. Und dann gab es den Moment, als ich erfahren habe, dass ein anderes Kind, genau wie ich, im Gefängnis geboren wurde und daraus ergaben sich verschiedene Forschungsarbeiten. Kurt Grünberg, mein Stiefvater, war sehr hilfreich, mir die Tradierung von Traumata zu erklären. Dann gab es eines Tages den Moment wo ich dachte: Was ist mit diesen anderen Kindern? Was ist aus denen geworden? Wo wohnen die? Wie hat sich die Weitergabe dieser Traumata gestaltet? Wie kann ich diese Menschen finden? Ich musste daraus einen Dokumentarfilm machen! Das war vielleicht ein Initialmoment. Das ist über viereinhalb Jahre her und dann ging der Weg los.

Das ist eine ganz schön lange Zeit...

Maryam Zaree: Ja, aber ich denke für einen Dokumentarfilm ist das gar nicht so lange. Joshua Oppenheimer war ein großes Vorbild, als er über 10 Jahre an „The Look of Silence“ und „The Act of Killing“ gearbeitet hat. Also ging es bei uns dann doch schnell.

Gab es schon von Anfang an ein fertiges Konzept oder gab es viel Improvisation und Veränderung während des kreativen Prozesses?

Maryam Zaree: Es war sehr früh klar, dass ich eine Idee davon haben muss, was das dramaturgische Gerüst ist, worum es im Film geht und wie ich ihn erzählen will. Dann war da dieser ganz frühe Zeitpunkt, der Moment, wo ich mich von der Idee verabschieden musste, dass ich in diesem Film nicht vorkomme. Ich wollte eigentlich einfach nur Regie machen. Ich wollte das von mir noch weiter fernhalten und dann war bereits klar, dass das nicht funktionieren wird. Denn ich kann mich da nicht aussparen, ich muss vorkommen, wenn ich etwas erzählen möchte über den Schritt aus der Verdrängung ins Licht hinaus. Das war relativ am Anfang. Auch ebenfalls war ganz früh klar, dass wir verschiedene Aspekte haben werden, beispielsweise die Metaebene. Diese verschiedenen metaphorischen Assoziationsebenen waren relativ früh beschrieben.

Und damit diese Ebenen Platz filmisch Platz finden können, brauchten wir ein gutes dramaturgisches Gerüst. Weil ich schon als Dramaturgin gearbeitet hatte, war es mir sehr wichtig, dass ich wusste was der Bogen ist. Wie baut sich das auf? Wo sind die Akte? Wo ist die Heldenreise? Wen treffe ich da? Auch damit ich mich auf die einzelnen Protagonisten einlassen konnte. Und klar war, dass wir dann sehr spontan reagieren mussten, wenn zum Beispiel plötzlich eine neue Konferenz da war, von der wir vorher noch nie gehört hatten. Dann mussten wir unser Pläne spontan ändern. So waren wir schon in Paris und plötzlich mussten wir wieder zurück nach Paris, obwohl wir schon längst in London waren. Es hat sich also immer wieder viel geändert. Ich muss sagen, der Drehablauf findet sich relativ chronologisch wieder im Film.

Man hat gemerkt, dass während der Dreharbeiten viele Menschen den Tränen nahe waren und dass es sehr emotional war. Wie war das für Sie? Gab es auch Momente, wo man nicht mehr konnte und einfach gesagt hat: Ich muss jetzt mal einen Cut machen?

Maryam Zaree: Man sieht es ja im Film. Es gibt diesen langen Widerstand, der ja ein scheinbarer Widerstand von außen ist, aber eigentlich ein innerer Widerstand ist. Kann ich mich dahin überhaupt vordrängen und was blickt mir dann so entgegen? Deshalb war es mir sehr wichtig, dass man dieses Zögern im Film sieht, genau wie die Sorge um das aufgeben. Ob im Gespräch mit einer Soziologin oder bei der eigenen Aufstellungsarbeit mit Puppen. Die eigenen Zweifel, ob man die Wahrheit eigentlich will. Was bringt es überhaupt? Das ist so im Film eingetreten. Deshalb geht es im fertigen Film auch über diese spezifische Geschichte die ich erzähle. Es sind Widerstandsmechanismen im Angesicht von extremen Gewalterfahrungen. Man möchte da nicht hingucken. Wie kann man diese Dinge filmisch vermitteln?

Wie war es für Sie aus der Rolle der Schauspielerin in die Rolle der Regisseurin zu wechseln? Wie war es gleichzeitig in dem Film vorzukommen und gleichzeitig Regie zu führen?

Maryam Zaree: Diese Frage wurde mir schon ein paarmal gestellt. Es waren Bedenken ganz am Anfang. Was bedeutet es? Wird man wahrhaftig in dem Moment sein und man selber sein, wenn man um Schauspieltechnik weiß? Aber dadurch, dass dieses Thema so extrem ist und es so viel mit uns zu tun hat, passiert es nicht. Die Distanzierung über ein Schauspielhandwerk ist völlig absurd. Das wäre mir nie in den Kopf gekommen, mir Gedanken über die gewaltvollen Umstände meiner Geburt machen. Da ist wie zwei unterschiedliche Planeten. Das Einzige, was etwas gebracht hat, ist der Umstand, dass ich 15 Jahre Schauspielerin war, hunderte Drehbücher gelesen habe, mich mit dem Handwerk des Geschichtenerzählens auskenne. Der große Vorteil war, dass ich in Drehblöcken gedreht habe und in diesen Blöcken zusammen mit dem Editor geschnitten habe und Pausen zwischen den Drehblöcken hatte.

Die waren keine nicht gefüllten Pause, sondern ich konnte da Rollen spielen und das hat meine Aufmerksamkeit so weggenommen und mir eine Distanzierung gelang. Ich konnte auf diesen Stoff schauen ohne in eine Überidentifikation mit der eigenen Geschichte zu kommen. Ich habe mich dann irgendwann sehr distanziert von der eigenen Geschichte und von mir als Protagonistin. Auch weil ein langer Zeitraum zwischen den Drehblöcken lag. Dann sitzt man so da und denkt: „Man, was blinzelt die die ganze Zeit. Der Satz ist viel zu lang.“ So sprach ich dann über mich selbst, weil es irgendwann so weit weg war. Und das war ein guter und auch notwendiger Prozess.

Gab es sehr viel Material, dass nicht im fertigen Film verwendet wurde?

Maryam Zaree: Ja, es gab 120 Stunden Filmmaterial. Mein Vater hat das mal ausgerechnet. Es sind ca. 7.000-8.000 Minuten. Der Film hat 90 Minuten, also hätte man auch sicher sechs Filme daraus machen können.

Was ist das, was man aus dem Film mitnehmen soll? Was ist die Kernbotschaft?

Maryam Zaree: Der Film ist ein Plädoyer gegen Menschenverachtung! Wie kann man aufrecht mit Integrität das gemeinsame Menschsein hochhalten? Wie kann man Nein sagen zu eben diesen Prozessen, wenn sich plötzlich etwas radikalisiert, idiologisch gefärbt wird und sich faschistische Strukturen breit machen? Was ist die Bedeutung von so einem Film in dem Kontext der Anschläge der letzten Zeit? Die Szene am Anfang der Kostümprob – darum geht es. Wie wird über Flucht gesprochen? Wer erzählt davon? Wer erzählt von Gewalterfahrung, Vertreibung, Verfolgungserfahrungen, Foltererfahrungen? Wie wird darüber gesprochen und wie eben nicht? Der Film versucht sich eben dem anzunähern: Was bedeutet es für eine folgende Generation, wenn sie sich den Geschichten annähern, seien es die der Großeltern- oder die der Elterngeneration. Wie kann man aus diesen Geschichten lernen, damit die Behauptung von Menschenrechten eben keine leere Behauptung ist, sondern aktive Auseinandersetzung. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Und wie wollen wir unsere Zukunft gestalten?

Inwieweit ist man als Medienmensch, als prominenter Mensch, in der Verantwortung sich zu gesellschaftspolitischen Fragen zu äußern?

Maryam Zaree: Als Prominenter hat man natürlich ein anderes Publikum, das man erreichen kann. Umso mehr sehe ich darin eine Verantwortung, genau das auch zu tun. Aber ich denke, im Moment müssen wir uns viel breiter gesellschaftlich die Frage stellen, was wir als Bürgerinnen und Bürger tun. Wie ist es mit einer gemeinsamen Verantwortung antifaschistisch, antirassistisch gegen den Antisemitismus, gegen diesen Hass auf sogenannten Anderen einzusetzen? Prominenten haben da durch ihre Reichweite eine besondere Verantwortung, aber der Bürger hat sie eben auch.

Was ist ihr Lieblingsgeräusch?

Maryam Zaree: Oh, das ist schwer! Aber das was mir einfällt ist komisch, weil sich da das Geräusch mit dem Geruch verbindet. Ich laufe wahnsinnig gerne auf Kiefernadeln und die Art wie das riecht und wie es anhört, wenn man darüber läuft und der Boden zu weich ist, dieser Geruch und dieses knistern, das liebe ich und entspannt mich so wahnsinnig.

Welches Geräusch mögen Sie gar nicht?

Maryam Zaree: Ich glaube das Geräusch, das ich am meisten hasse, ist das gurren von Tauben.

Was ist Ihr Lieblingswort?

Maryam Zaree: Ich denke jetzt gerade, weil das ein Wort ist, das ich viel benutze, auch in Gesprächen, das ist „das Versehrtsein“ und das Anerkennen des Versehrtseins. Das ist ein schöner Begriff über das, was Menschen angetan worden ist und wo der Akt der Gewalt nicht mit der Tat aufhört, sondern Menschen etwas mit sich tragen.

Welches Wort mögen Sie nicht?

Maryam Zaree: Ein Wort, das ich gar nicht mag und hasse, ist „Hass“. Ich finde, Wut ist legitim. Hass aber, gerade als antreibende Kraft, finde ich schrecklich.

Was ist Ihr Lieblingsschimpfwort?

Maryam Zaree: Mein Lieblingsschimpfwort ist: „Es war würdelos!“. Es ist kein Schimpfwort, aber einer meiner besten Freunde sagt es immer in einem lustigen Kontext. Ich sage es sehr gerne.


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